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"Mit Reförmchen ist es nicht getan"

'Mit Reförmchen ist es nicht getan'
Die Festrede der Freiburger Theologin Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer auf dem Jahresempfang des Erzbistums in Hof hat nachhaltig für Gesprächsstoff gesorgt. Die Sozialethikerin rief die Kirche zu grundlegenden Veränderungen auf allen Ebenen auf. Angesichts dramatischer Schrumpfungsprozesse müsse alles auf den Prüfstand. Mit „Reförmchen“ sei es nicht getan. Wir dokumentieren einige ihrer Kernaussagen.
Datum:
Veröffentlicht: 4.7.23
Von:
Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer

1. „Die Kirche steckt in einer tiefen Vertrauenskrise“

Institutionen wie die Kirche stehen heute einer generellen Tendenz des Misstrauens gegenüber. Spezifisch innerkirchlich kommt dazu, dass der Missbrauchsskandal viele Mitglieder dazu gebracht hat, sich im absoluten Unverständnis, in maßloser Enttäuschung, mehr noch, im Zorn von der Kirche abzuwenden. Der Verlust des Vertrauens in die Institution wird noch befördert durch einen Verlust des Vertrauens in ihr Personal. Mit einem „Weiter so“ oder mit kleinen Reformen an dieser oder jener Stellschraube findet die Kirche nicht aus dieser tiefen Vertrauenskrise heraus.

2. „Reformdruck auf allen Ebenen“

Die Volkskirche verschwindet. Auf allen kirchlichen Ebene zeigen empirisch feststellbare Fakten die Notwendigkeit, Strukturen gegenwartsadäquat und zukunftsgeeignet umzuformen: Die Zahl der Messbesucherinnen und Messbesucher, der Priester, der Seelsorgerinnen und Seelsorger, der Theologinnen und Theologen bröckelt dramatisch. Die Nachfrage nach Sakramenten und nach kirchlichem Beistand an Lebenswenden nimmt rasant ab. Dieser Einbruch zieht einen massiven Umgestaltungsdruck nach sich.

3. „Menschen fühlen sich ihrer kirchlichen Heimat beraubt“

Viele Menschen haben das Gefühl, ihrer kirchlichen Heimat beraubt zu sein. Sie wenden sich ab, weil das nicht mehr ihre Kirche ist, weil sie nicht mehr übereinstimmen können mit der kirchlichen Glaubens- und vor allem Morallehre, weil sie maßlos enttäuscht sind über alles, was im Zusammenhang mit Missbrauch steht. Sie erfahren die Kirche nicht als eine Institution, die interessiert wäre an ihrem Alltag, und auch nicht als eine Institution, die wahrhaftig lernbereit wäre.

4. „Nicht nur Superhelden“

Christinnen und Christen müssen – real und bildlich gesprochen – auch das Recht haben, in der Kirche mal hinter der Säule zu stehen. Nicht nur Superheldinnen und -helden dürfen sich eingeladen fühlen, sondern alle Menschen mit ihrer Kontingenz, ihren Zweifeln, ihren Fragen, ihrem Leid, ihrer Anklage an Gott, aber auch mit ihrer Gleichgültigkeit und Halbherzigkeit, einfach mit all dem, was ihr Leben ausmacht.

5. „Gottes Größe offenbart sich im Scheitern und Gelingen“

Authentisch gelebtes Christentum stellt die Frohe Botschaft in den Mittelpunkt – mit der Überzeugung, dass diese Botschaft nicht allein Vertröstung auf das Jenseits bedeutet, sondern auch Zuversicht für das Diesseits. Eine so verstandene Authentizität führt weg von reinem ‚Leistungsdruck für das Himmelsreich‘ auf ausgetretenen Pfaden und ermutigt zum Betreten neuer, kreativer Wege, getragen von der Hoffnung, dass sich die Größe Gottes im Scheitern und im Gelingen offenbart.

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Weihbischof Herwig Gössl, der als Administrator das Erzbistum leitet, betonte angesichts Nothelle-Wildfeuers Appell den Kernauftrag der Kirche: Gemeinschaft aufbauen und die Menschen in Berührung mit Gott bringen. Der Weg dorthin sei nicht immer harmonisch – entscheidend sei jedoch, „dass man trotzdem beieinander bleibt und füreinander einsteht“. Enttäuschungen und Unterschiede auszuhalten sei anstrengend. „Ohne den Willen zur Gemeinschaft gibt es jedoch überhaupt keine Zukunft für uns Menschen“, sagte Gössl und verwies auf weltweite Prozesse der Entfremdung, Aufspaltung und Vereinsamung. Die Kirche habe die Mission, die Vergemeinschaftung von Menschen zu stärken, nicht nur in den eigenen Reihen. Dabei seien alle im Blick zu behalten, „nicht nur die hundertprozentig Überzeugten oder diejenigen, mit denen man ohnehin auf einer Wellenlinie liegt“. Vielfalt könne demnach als bereichernd erfahren werden.