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Trisomie 21:Besonders. Anders. Normal.

Ministrant
Nach der Erstkommunion in der Kirche als Ministrant verbunden zu bleiben oder nicht ist für die meisten Kinder eine normale Entscheidung. Anders ist das bei Josef.
Datum:
Veröffentlicht: 1.12.16
Von:
Julia Haase

Josef besitzt nämlich etwas, was andere Kinder nicht haben: Ein Drittes Chromosom 21. Den Altardienst zu verrichten ist für ihn dennoch normal. Und doch etwas Besonderes.

In der Pfarrkirche St. Sebastian in Scheßlitz ist es noch leer. Der Sonntagsgottesdienst beginnt in einer halben Stunde. In der Sakristei hilft Andre seinem kleinen Bruder Josef beim Anziehen des Ministrantengewands. Liebevoll bindet Andre das violette Zingulum um die Hüfte. Den Knoten kann Josef nicht selbst binden. „Zu eng?“ –„Nein, passt,“ grinst er seinen großen Bruder an. Josef ist 15 Jahre alt und hat Trisomie 21, das Down-Syndrom. Seit seiner Kommunion vor sechs Jahren ministriert er in der kleinen Dorfpfarrei in der fränkischen Schweiz. Sein Bruder Andre war schon vor ihm Ministrant und dem, was der große Bruder macht, wollte Josef natürlich nacheifern. „Was magst du heute machen Josef?“ –„Das mit dem Wasser. Da muss ich dann beide nehmen und bringen, oder?“ Fragend blickt er zu Andre auf. „Ja, ich helf‘ dir dann, wenn es so weit ist.“

Ministrant

„Anfangs war es eher ein Experiment“, erzählt Josefs Mutter Waltraud zwei Tage später beim Kaffee Zuhause, „weil der Große ja schon dabei war und wir haben einen neuen Pfarrer bekomme, der sehr aufgeschlossen war.“ - „Der ist mein Kumpel“, ruft Josef aus der Küche, wo er sich gerade einen Kakao macht. Selbstständig möchte er gerne sein. Deswegen gebe es gerade seit der Pubertät auch Streitereien mit seinem 16-jährigen Bruder. Der möchte nämlich immer gerne aufpassen und helfen. So kam es in der Vergangenheit schon häufiger vor, dass die beiden zu zweit zum Onkel in die Nachbarortschaft losgefahren sind und Josef dem Großen davongeradelt ist. „Der hat schon seinen eigenen Kopf. Wenn er wohin möchte, dann geht er auch einfach. Erst letzte Woche wollte er in der Kirche den Pfarrer besuchen, obwohl der gar nicht da war. Abgemeldet hat er sich natürlich nicht und wir haben ihn überall gesucht“, lacht seine Mutter.

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Alltag mit Besonderheiten

Mittlerweile nehme sie das mit Humor. Ihr Mann Franz sei da anders. Der mache sich immer gleich Sorgen und würde Josef am liebsten ständig bei sich haben. Währenddessen kommt Josef an den Tisch und nimmt sich ein Stück Kuchen. „Du bist die beste Köchin Mama! Aber einkaufen gehe ich mit dem Papa! Meinem Papa.“ Der steht bei Josef unangefochten an erster Stelle. Vor allem, weil er ihm mehr durchgehen lässt, als die Mutter. In diesem Moment kommen die beiden Familienkatzen in den Raum und fauchen sich an. Josef zuckt zusammen: „Pssst! Aufhören!“ Streit mag der Teenager nämlich nicht. Wenn seine Eltern diskutieren, geht er sofort dazwischen. Harmonie in seiner Familie ist ihm besonders wichtig. Deswegen besucht er seinen Patenonkel im Nachbarort auch immer auf dem Bauernhof. „Montag fahr ich, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag“, zählt er an seine Fingern ab, „und Samstag und Sonntag. Jeden Tag.“ – „Naja nicht ganz“, korrigiert ihn seine Mutter, „aber er will schon alle immer sehen. Als er einmal im Krankenhaus war und ihn eine Tante nicht besucht hat, hat er ihr das gleich vorgeworfen. Er steht halt auch gerne im Mittelpunkt. Seine Kommunion war zum Beispiel etwas ganz Besonderes für ihn.“

Noch heute schaut sich Josef regelmäßig sein Kommunionvideo an und liest sämtliche Karten durch. Seinen Eltern ist es wichtig, dass er lesen kann und in seiner Entwicklung nicht stehen bleibt. Das bedeutet auch, dass er möglichst das macht, was andere Kinder in seinem Alter auch machen. Vor der Kommunion hatten sie überlegt, ihn gemeinsam mit anderen Kindern aus der Lebenshilfe zur Erstkommunion zu schicken. Dann haben sie sich dafür entschieden, dass er diesen besonderen Gottesdienst auch in seiner Heimatpfarrei mit den Leuten, die er kennt, erleben soll. „Das war auch richtig. Er hat dann an Weihnachten zum Beispiel das Jesuskind in die Kirche getragen und den Erstkommunionsgottesdienst mitgestalten dürfen, wie alle anderen auch“, sagt Mutter Waltraud.

Schule mit Besonderheiten

Schon immer haben die Eltern von Josef darauf geachtet, dass er möglichst ohne Einschränkungen leben kann und haben versucht, Josef weiter zu fördern. Zu der Zeit, als Josef in die Schule kam, hat sich der Förderverein Integrative Schule Bamberg (FISBa) gegründet. Josef gehörte zum Pilotprojekt der ersten Kooperationsklasse im Jahr 2008 einer Grundschule in Bamberg. Mittlerweile besucht er die 8. Klasse einer Mittelschule im Rahmen eines „Partnerklassen“-Projekts. Hier arbeiten die staatliche Schule und die Förderschule der Lebenshilfe Bamberg zusammen. Inklusion heißt das Überbegriff. Die Schüler sollen nicht immerwährend auf einem Wissenstand sein, sondern jedes Kind bekommt die Aufgaben, die seinem Wissens- und Entwicklungsstand angepasst sind. Formal sind behinderte und nicht-behinderte Kinder in zwei Klassen getrennt, die aber, soweit es möglich ist, gemeinsamen Unterricht haben. Gerade bei Fächern wie Kunst oder Musik ist das einfach.

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Zukunft mit Besonderheiten

In zwei Jahren kommt Josef in die Berufsschule. Dann wird noch einmal alles anders. Seine Mutter wünscht sich für ihn ein möglichst eigenständiges Leben, das für ihn auch ständige Weiterentwicklung bedeutet. Ein Leben nach dem Prinzip der Inklusion. Sozialpädagogin Kerstin Klein kennt sich damit aus. Sie arbeitet im Sozialdienst einer Behindertenwerkstätte. Gerade in den letzten Jahren wurden vermehrt Außenarbeitsplätze bei externen Firmen in der freien Wirtschaft für Menschen mit Behinderung geschaffen.

„Jeder Mensch sollte das gleiche Recht haben, sein Leben zu gestalten – unabhängig von seiner Beeinträchtigung“, erklärt sie. Natürlich stoße man immer wieder an Grenzen, wenn bei den Arbeitgebern noch eine gewisse Hemmschwelle besteht. „Wichtig ist, dass man den Mitarbeiter mit Behinderung als vollwertiges Mitglied integriert, auch wenn dieser zusätzlich eine spezielle Begleitung und Anleitung bekommt. Man sollte nicht darauf schauen, was der Mitarbeiter alle nicht kann, sondern seine Stärken gezielt einsetzen“, ergänzt sie. Offenheit für Besonderheiten, ressourcenorientierter Einsatz und Nischenarbeitsplätze. In Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst der Behinderteneinrichtungen können Menschen mit Behinderung auch auf dem ersten Arbeitsmarkt einem Beruf nachgehen, wie jeder andere auch.

Auch beim Wohnen haben sich in den vergangen Jahren viele neue Formen etabliert. Gab es früher nur die Betreuung Zuhause oder in einem Behindertenwohnheim, das von der Wohn- und betreuungsform an ein Altenheim erinnert, gibt es heute vielfältige Möglichkeiten. Josefs Mutter wünscht sich, dass ihr Sohn nach seinen Wünschen leben kann: „Vielleicht in einem betreuten Wohnen irgendwann. Allein kann er wahrscheinlich nicht leben. Er würde ja auch so gerne den Führerschein machen und Busfahrer werden.“ Dieser Wunsch wird sich für ihn nicht erfüllen.

Ein weitgehend normales Leben soll er trotzdem führen. In welche Richtung das geht, ist aber noch unklar. Sein zweiter Berufswunsch? „Dirigent!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen und Josef setzt sich aufrecht hin. Mit den Händen und Armen dirigiert er eine unsichtbare Kapelle, während er gleichzeitig Blasmusik nachahmt. Täuschend echt und im Takt.

Denn Musik ist seine große Leidenschaft.

Seit einiger Zeit spielt er selbst Klavier und würde am liebsten auch in der Kirche musizieren: „Eigentlich könnten wir doch mein Klavier mal mitnehmen. Da gibt es doch Steckdosen.“ Seine Mutter lächelt ihn an und streichelt ihm über den Arm. „Irgendwann mal, vielleicht ja. Jetzt musst du aber erst mal deine Weihnachtslieder üben.“ Die konnte er letztes Jahr eigentlich noch. Jetzt muss er alle wieder neu lernen. Daran merke sie dann wieder, dass Josef an seine Grenzen kommt. Deshalb gibt es auch kein Handy zu Weihnachten, auch wenn Josef sich das wünschen würde. „Das wäre zu gefährlich. Einmal hat ihm sein Bruder etwas weggenommen und er meinte, dass er jetzt die Polizei rufen würde. Hat er dann auch versucht. Er hat zwar nur wahllos Zahlen getippt, aber wer weiß, was mit einem Handy wäre“, sagt seine Mutter. „Wahrscheinlich hätte jeder andere zwei Kinder erziehen können, in der Zeit, wo wir uns um den Josef gekümmert haben.“

Leben mit Besonderheiten

Aber es gibt schließlich auch viele schöne Erlebnisse. Zum Beispiel, als Josef beim Vorspielen in der Musikschule allein am großen Flügel seine erlernten Stücke vor großem Publikum gespielt hat. Oder wenn er im Ministrantengewand das Kreuz bei Prozessionen trägt. „Das war ganz schön schwer. Aber ich bin stark“, erklärt Josef und spannt seinen Arm an. Aufmerksamer als die anderen Ministranten sei er laut seiner Mutter. Er gebe da schon mal gerne den Ton an und suche immer Blickkontakt zu den anderen. Beim Gottesdienst sucht der Pfarrer immer für ihn im Gotteslob die Lieder und schlägt ihm die entsprechenden Seiten auf. Er will ja auch mitsingen. „Die beiden haben wirklich ein ganz besonderes Verhältnis“, erzählt seine Mutter. „Er sagt immer, dass die Sonne scheint, wenn Josef ministriert. Auch wenn schlechtes Wetter ist.“ In diesen Momenten ist Josef ein Kind wie jedes andere auch. Und doch etwas Besonderes.