Lichtblick-Bringer:Von Einsamkeit & Gemeinsamkeit
Marianne ist sichtlich aufgeregt, als sie die Tür öffnet. Auf dem Wohnzimmertisch steht alles bereit. Das gute Porzellan. Der Kaffee ist schon eingeschenkt. „Wenn es lieber ist, gibt es natürlich auch Tee“, versichert die Rentnerin. Für sie ist heute ein besonderer Tag. Weil da jemand ist. In ihrer Wohnung. Weil da jemand mit ihr spricht. Sie hatte es schon fast verlernt, sagt sie. Das Sprechen. Früher war die gelernte Krankenschwester gerne alleine, war Tagträumerin. Doch aus alleine ist längst einsam geworden. Lange dachte Marianne, sie hätte keine Wahl mehr. Aber man hat immer eine Wahl. Wenn man sich nicht aufgibt, findet man Menschen, die verstehen und die helfen. Unzählige Fotos an den Wänden zeigen Marianne mit Freunden. Mit ihrem Mann Peter. Mit ihrem Sohn Max. Mit all denen, die nach und nach aus ihrem Alltag gewichen sind. Seit Max vor elf Jahren nach Kanada ausgewandert ist, hat Marianne ihn höchstens ein Dutzend Mal gesehen. Als dann vor drei Jahren ihr geliebter Mann – ihr „Held“ – gestorben ist, hat sich ihr Leben gewandelt. Erst war da der Schock, dann kam die Stille. Die zu durchbrechen, wurde mit jedem Tag schwerer.
Man muss sich aktiv um soziale Kontakte kümmern.“
-Anja Münzel, Caritas Bamberg
Anja Münzel kennt dieses Problem. Die Sozialpädagogin und Pflegefachkraft setzt sich im Zuge des Stadtviertel-Projekts der Caritas Bamberg im Babenberger Viertel mit dem Älterwerden auseinander. Sie weiß: „Wenn der Partner stirbt und die Trauer einsetzt, ist da oft erstmal der Rückzug.“ Wenn dann kein Netz aus Familienmitgliedern oder Freunden auffängt, beginnt ein Teufelskreis. Deshalb rät Münzel, frühzeitig gegenzusteuern: „Wenn man darauf wartet, dass etwas passiert, passiert meistens nichts. Man muss sich aktiv um soziale Kontakte kümmern.“
Das hat Marianne verpasst. Sie hat die Einsamkeit bald für ihr Schicksal gehalten. Hat sich zufriedengegeben, mit kurzen Gesprächen beim Arzt, im Supermarkt oder im Bus. Linie 915 wurde zum Highlight ihres Tages. Inzwischen hat sie neue Hoffnung. Als sie vor einigen Wochen eine Dokumentation im Fernsehen gesehen hat, ist ihr klar geworden, dass sie sich nicht schämen muss. Sie hat zum Hörer gegriffen, die Nummer der Caritas gewählt. Sich erkundigt, welche Möglichkeiten es gibt. Dadurch war „der Bann gebrochen“. Letzte Woche war sie das erste Mal in einem Gesprächskreis. Nächsten Dienstag geht sie zu einem Kaffeekränzchen für alleinstehende Senioren. 15 Uhr. Rot angestrichen in einem sonst leeren Kalender.
Eigentlich bin ich immer alleine. Zumindest im Alltag.“
-Anita (88)
Damit geht Marianne in die Offensive. Ein mutiger Schritt, den nur die Wenigsten wagen. „Meistens braucht man einen Fuß in der Tür, um überhaupt Kontakt herzustellen“, erklärt Ruth Fricke. Als Koordinatorin der ehrenamtlichen Besuchs- und Begleitdienste der Malteser in Bamberg weiß sie, dass viele nicht mehr über den Tellerrand hinausschauen, wenn sie einsam sind. Oft sind es Kollegen vom Menüservice, Angehörige oder pastorales Personal aus den Pfarreien, die den ersten Impuls geben.
So ist es auch bei Anita gewesen. Die 88-Jährige befand sich in einer ähnlichen Situation wie Marianne. Ähnlich und doch ganz anders. Anitas Mann ist auch gegangen. Aber sie hat Familie. Fünf Enkel insgesamt. Sogar schon Urenkel. Ihre jüngste Tochter wohnt nur fünf Minuten entfernt. Die Älteste ruft zwei Mal am Tag an. Trotzdem stellt auch Anita fest: „Eigentlich bin ich immer alleine. Zumindest im Alltag.“ Deswegen haben sich ihre Liebsten darum gekümmert, Abhilfe zu schaffen. Seitdem trifft sie sich regelmäßig mit Günter Rihm. Gemeinsam gehen die beiden Kaffee trinken oder Einkaufen. Pensionär Rihm ist in den Sechzigern. Er wirkt ruhig und einfühlsam. Seit drei Jahren engagiert er sich beim Besuchs- und Begleitdienst der Malteser. Dass Anitas Kinder und Enkel viel um die Ohren haben versteht der Ex-Boschler. Er dagegen sieht sich als „Zeit-Millionär“, seit er im Ruhestand ist. Diesen Reichtum will er gut investieren.
Oft sind es nicht die Senioren, die den ersten Schritt machen. Sie sind schon zu sehr in ihrem Trott. Man muss auf sie zugehen.“
-Günter Rihm
Anita weiß das zu schätzen. Sie fühlt sich sichtlich wohl, wenn er da ist. „Er könnte mein Sohn sein“, scherzt sie, und hält dann plötzlich inne. Ihr echter Sohn, Matthias, ist vor 30 Jahren gestorben. Hirnschlag. Danach haben Anita und ihr Mann die Welt nicht mehr verstanden, sind ins fränkische Bamberg gezogen. In die Nähe ihrer Jüngsten. Hier fehlt Anita nun der Anschluss. Außer dem Nachwuchs hat sie niemanden. Ihr Gatte Rainer ist nach fast 65 erfüllten Ehejahren von ihr gegangen. Kurz vor der Eisenhochzeit. Er hat eine Lücke hinterlassen, die man nicht einfach auffüllen kann. Sie sieht viel fern, jeden Tag „Unter Uns“, geht regelmäßig auf den Friedhof.
Die Besuche von Herrn Rihm sind eine willkommene Abwechslung. Anita und er sprechen über Gott und die Welt. Über das Fernsehprogramm. Über alte Zeiten. Es ist eigentlich egal worüber. „Das Wichtigste ist, dem Gegenüber einen Gesprächspartner zu bieten“, weiß Rihm. Diese Bemühungen tragen Früchte. Anitas Schmunzeln ist der Beweis. Wenn sie Anekdoten zum Besten gibt, wirkt sie jung und lebensfroh. Man merkt, dass die Einsamkeit mit jedem Wort ein bisschen weniger wird. Auch wenn Anita in einer halben Stunde wieder zu Hause sitzt. Alleine auf ihrer Couch.
Was ihr dann bleibt ist die Gewissheit, dass das Gefühl ihrer Einsamkeit wieder durchbrochen werden wird. So ein kleiner Lichtblick kann Großes bewirken. Deswegen muss man keine Berge versetzen, um ein Leben wieder lebenswert zu machen. Deswegen können ein paar Stunden Reden Anitas Temperament aufrechterhalten. Und deswegen reicht alleine Mariannes Hoffnung, um ihr die Gewissheit zu geben, bald wieder eine Wahl zu haben.
Wenn Sie selbst Unterstützung suchen oder sich engagieren wollen, finden Sie hier alle Infos hier bei der Caritas Bamberg.